Gefühlt guter Raum, eine gesamtsinnliche Betrachtungsweise

Gefühlt guter Raum Bucheinfassung

Ein Vorwort

Seit jeher gibt es in unserer gebauten Umwelt in grober Unterscheidung zwei Arten von Häusern, die sich in ihrer Wesensart diametral voneinander unterscheiden. Es gibt Häuser, die sind aus der Situation, in der sie stehen, nicht mehr weg zu denken und solche, die man sich gerne wegdenken würde.

Bei ersteren spreche ich von Architekturen im eigentlichen Sinn. Diese sind gut durchdacht, feinfühlig komponiert und atmosphärisch dicht, sie wissen zu überzeugen, erfüllen ihre Benutzer mit Freude und unterstützen sie als stille Begleiter. Kurz, sie tragen nachhaltig etwas zu unserer (Bau-)Kultur bei. Solche Gebäude möchte man nicht missen, nein, man will sie schützen, hegen und pflegen, damit auch nachfolgende Generationen in ihren Genuss kommen.

Bei letzteren kann ich leider nicht von Architektur sprechen, da sie schlichtweg nur gebaut worden sind und keiner Prämisse eines guten architektonischen Entwurfs gerecht werden. Lieblos und unpassend stehen sie in der Landschaft und betrachtet man sie, wird man das Gefühl nicht los, dass sie sich selbst in ihrer Haut nicht so richtig wohl fühlen. Ging der Entwurf lustlos vonstatten? Oder musste das schnelle Geld verdient werden? Vielleicht überwog die Angst vor etwas «Neuem», das noch nicht in zigfacher Ausführung bereits da stand? Vielleicht ging man so den einfachsten Weg, besser kopieren, nicht kreieren, «nur kein Risiko» lautet die Parole. Solche Häuser werden nur mühsam und freudlos verwendet, von der Gesellschaft eher gemieden als geliebt und geraten schnell in Vergessenheit oder verschwinden im besten Fall wieder gänzlich von der Bildfläche. Was jedoch übrig bleibt, ist die insipide gesellschaftliche Ansicht der Architekt habe einmal mehr versagt und «nichts Gutes gebaut». Versuche ich nun aber die als Architekturen bezeichneten Häuser genauer zu betrachten und auch bei ihnen den Unterschied zwischen gutem Durchschnitt 1 und dem, was eine Architektur in den Augen der Gesellschaft und des Individuums unersetzlich macht, also hervorragende Architektur ist, zu ersinnen, stellt sich mir die Frage, was denn eben dieser Unterschied sein könnte? Zu beantworten versuche ich dies wie folgt: die herausragenden Bauwerke sind sogenannte beseelte Häuser.

Architektur, die auf funktionaler Seite gut arbeitet oder deren Fassade viel zu bieten hat, macht allein noch kein gutes Gebäude aus. Wie oft betraten wir bereits ein solches Gebäude, spürten aber weiter «nichts»? Alles in allem funktionierte der Aufenthalt zwar, doch der Aufgabe des Gebäudes entsprechend aufgehoben fühlten wir uns nicht. Oder der Ausdruck des Bauwerks gipfelte in einem banalen Akt der Inszenierung, glich mehr Werbung als Architektur und ein Blick hinter die Kulissen enttäuschte von Grund auf.

Beseelte Häuser tun dies auf ihre ganz eigene Art und Weise nicht. Egal ob Laie oder Sachkundiger, man betritt und verlässt sie mit einem guten Gefühl und behält sie in guter Erinnerung.


1 Guter Durchschnitt meint hier das Erreichen einer plausiblen Architektur, durch den richtigen Gebrauch einer leistungsfähigen Typologie und einer Formensprache, die indirekt architektonische Stimmigkeit zu gewährleisten vermag und es somit auch dem einfachen Baumeister erlaubt gute Architektur zu kreieren. (Vgl. Franck 2008, S. 223)

Einleitend zur Abhandlung: Dem Sehsinn zuliebe

Wandert man mit offenen Augen durch die gebaute Landschaft, wundert man sich ob der unterschiedlichen Vielfalt der Baukörper und oft scheint ein Gebäude das vorherige in seiner Erscheinung übertrumpfen zu wollen. In solchen Momenten wird man genötigt zu denken: Spezieller geht’s immer, doch besser wird’s nimmer. Ohne pathetisch zu werden kann festgestellt werden, dass bei solcher, dem Sehsinn zuliebe gebauter Architektur, in gewisser Hinsicht ein Verlust an architektonischer Qualität vorzufinden ist. Nach Dorothea und Georg Franck ist «das Bauen […] zum Gegenstand allgemeinen Unbehagens geworden. Was einmal als Bereicherung galt, wird inzwischen als Verunstaltung empfunden. […] Das Bauen hat seine Unschuld verloren.»1 Und in der Tat scheint die Gesellschaft der heutigen Bauweise angstvoll entgegen zu treten, man versucht die Landschaft und historisch gewachsene Städte mit allen Mitteln vor einer weiteren Verschandelung zu schützen und «Architektur» wird in der Öffentlichkeit kritischer denn je betrachtet und diskutiert. Dass «einfach Gebautes»2 nicht zu überzeugen vermag, bedarf keiner grossen Erklärung, dass teilweise jedoch sogenannte neue Leuchtturmarchitektur, die heute der breiten Öffentlichkeit als hochkarätige Baukunst verkauft wird, nicht zu einer Klärung der Situation beiträgt, sondern im Gegenteil, eher weiteren Unmut aufkommen lässt, macht nachdenklich.

Wird von Architektur gesprochen, spricht man unweigerlich von Qualität.3 Diese Qualität allein ist es, die einfach Gebautes von Architekturen zu unterscheiden vermag und über den Erfolg oder Misserfolg eines Bauwerks in unserer Gesellschaft entscheidet.
Leider ist diese Qualität, nebst einer ökonomischen und ökologischen, oft nur im Visuellen zu finden. Dies gründet in unserer westlichen Kultur, die den Sehsinn vor allen anderen Sinnen, als «den» Sinn der Sinne bezeichnet. Die Philosophie hält in einer Reihe geistreicher Abhandlungen fest, dass «die westliche Kultur seit der griechischen Antike vom Paradigma des Okularzentrismus beherrscht wird, welcher seine Interpretation von Erkenntnis, Wahrheit und Wirklichkeit ganz auf visuelle Wahrnehmung stützt und sie danach ausrichtet.»4

Nicht zuletzt der bereits erwähnte und oft verwendete Begriff der Leucht-turmarchitektur bestätigt diese Sichtweise, strömt dieser doch Licht aus, um aus der Distanz wahrgenommen, sprich gesehen, zu werden. Doch genau diese Distanz zum gebauten Objekt, welche die rein okulare Wahrnehmung unabänderlich mit sich bringt, ist einer Architektur im herkömmlichen Sinn5 abkömmlich und hält die gesellschaftliche Kritik an der Architektur hoch. Gemäss Juhani Pallasmaa betrachtet das narzisstische Auge «[…] Architektur lediglich als Mittel zur Selbstdarstellung […], losgelöst von allen wesentlichen seelisch-geistigen Verbindungen mit der Gesellschaft.»6 Dieser Narzissmus ist es, der viele Gebäude mit nichts als schöner Fassade dastehen lässt und sie als vom Menschen distanzierte und somit unpersönliche und unnahbare «Paläste» präsentiert. Im Gegensatz dazu gibt es viele Beispiele von beseelten Gebäuden. An dieser Stelle sei Peter Zumthors Therme in Vals genannt, die der Öffentlichkeit kein Dorn im Auge ist, die sogar «frühzeitig» unter Schutz gestellt wurde und die man als Gesellschaft nicht mehr missen möchte. Solche Gebäude entziehen sich dem alleinherrschenden visuellen Anspruch, sie bieten dem Menschen auf einer gesamtsinnlichen Erfahrungsbasis unterschiedlichste akustische, taktile, olfaktorische und sogar gustatorische Stimuli an und besitzen eine derart dichte Atmosphäre, dass sie einen gefühlt guten Raum ergeben.
Daraus stellen sich die folgenden Fragen: Was ist diese gesamtsinnliche und dichte Atmosphäre und was macht den gefühlt guten Raum aus? Wie weit können solche Atmosphären objektiv betrachtet werden, resp. wie nimmt der Mensch als Individuum die jeweilige Atmosphäre wahr? Das Was und ein Wie soll im Zuge dieser Arbeit herausgearbeitet und am Fallbeispiel eines Wohnhauses und der Therme untersucht werden.

Um das Thema greifbar zu machen wird im ersten Teil der Arbeit der architekturtheoretische Diskurs gesucht. Der darauffolgende zweite Teil widmet sich der unmittelbaren und erinnerten sinnlichen Erfahrung aus Sicht des Subjekts und versucht, wo möglich, das Erfahrene zu objektivieren, um die Erkenntnisse für den «allgemeinen» Entwurf nutzbar zu machen.


1 Franck 2008, S. 11

2 Einfach Gebautes bezeichnet hier den mit fehlendem architektonischem Qualitätsanspruch erstellten Raum.

3 Vgl. Franck 2008, S. 7

4 Levin 1993, S. 2

5 Die Architektur im herkömmlichen Sinn wird in taktiler Form vom Menschen für den Menschen geschaffen und muss diesem gesamtsinnlich zuträglich sein.

6 Vgl. Pallasmaa 2013, S. 28

Erster Teil

Raum leiblicher Anwesenheit

In unserer europäischen Kultur wird der Begriff des Raums in zweierlei Hinsicht definiert. Einmal kann der Raum, den Aristoteles als Topos bezeichnet hat, als Ort angesehen werden, der durch seine Lage- und Zwischenbeziehungen, sowie Umgebung ausgemacht wird. Dieser Definition nach ist der Raum als Raum leiblicher Anwesenheit zu sehen, in dem sich das Raumerlebnis stets auf ein «hier bin ich» zentriert und somit sämtliche Charakteristika des Raums1 auf unsere eigene Leiberfahrung im Raum zurückzuführen sind. Diese Lesart bezieht sich also auf die effektive Raumerfahrung eines Individuums vor Ort, wobei der leibliche Raum nicht als Ort, welchen der Mensch mit seinem Körper besetzt, zu verstehen ist, sondern als Sphäre seiner sinnlichen Präsenz.2
Nach Martin Heidegger differenziert sich dieser Raum klar vom euklidischen Raum, da dieser einen konkreten Ort bezeichnet und nicht einen messbaren Abstand.3 Der «[…] Raum wird nicht als ›Abstand‹ vom Absoluten, sondern als ›Ort‹ vom Besonderen her gedacht.»4

Die zweite Ausdeutung sieht den Raum, wie bereits angedeutet, im euklidischen Sinn. Diese Sehweise geht auf Descartes zurück, der den Raum nur durch Distanz und Abstand vermessen anerkennt, als nach ihm alles sinnlich vermittelte trügerisch ist und nur das als wahr anzuerkennen ist, was absolut mit dem Verstand erfasst werden kann, also: Länge, Breite und Tiefe. Dieser «absolute» Raum wurde von Newton als Spatium definiert.5 6
Termini wie Volumina, Proportion, Form- und Farbgebung stehen bei dieser Interpretation im Vordergrund. Raumbeschriebe, die aus dieser räumlichen Sichtweise her verfasst werden, charakterisieren den Raum zwar aus baulicher Anschauung sachdienlich, aus Sicht des gefühlten Raums jedoch können sie nicht viel leisten. Sie haben einen beschreibenden Charakter, der den Baukörper in seiner Ausformulierung artikuliert, aber nichts in ihn hineininterpretiert. Mit anderen Worten: In dieser Betrachtungsweise bleibt ein Haus nicht mehr als eine geometrisch gedachte leere Hülle und die sinnliche Erfahrung, die ein Haus ausmacht und als ein Dazwischen, als eine Raumatmosphäre, zu finden ist, wird nicht in die Beschreibung mit einbezogen.
Wir erleben zum Beispiel eine Distanz im Raum nicht metrisch, sondern als fern oder nah, wir werden kaum zweihundertfünfzig Kubikmeter an Raum erleben, sondern einen geräumigen Saal. Ebenso verhält es sich mit Farbe, ein Raum ist nie «neutral» rot oder blau, der rote Raum wird als wärmer empfunden als sein blauer Konterpart. Letztere Begrifflichkeiten beschreiben unser Erleben des Spatiums und müssen deshalb dem Raum leiblicher Anwesenheit zugeschrieben werden. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Spatium diesen Raum in formaler Hinsicht zwar definiert, ihn aber in unserer Wahrnehmung nicht ausmacht. Diese Begriffsklärung ist für uns also von grosser Wichtigkeit, weil wir uns bei einer Annäherung an den gefühlt guten Raum bewusst machen müssen, dass unabdinglich der Mensch und sein gesamtsinnliches Erleben den Diskurs zu dominieren hat und somit in erster Linie vom Raum leiblicher Anwesenheit gesprochen wird, nicht jedoch vom Raum im euklidischen Sinn.


1 Charakteristika des Raumes können unter anderem sein: eng oder weit, ein- oder ausladend, hell oder dunkel, schrill oder zurückhaltend etc.

2 Vgl. Böhme 2013, S. 88

3 Vgl. Günzel 2020, S. 59

4 Günzel 2020, S. 60

5 Vgl. Böhme 2013, S. 88

6 Vgl. Günzel 2013, S. 51

Klärung unseres Raumerlebens

Unser Erleben im Raum leiblicher Anwesenheit wird hauptsächlich durch drei Faktoren gestaltet. Zum einen ist die Erinnerung an den längst erlebten Raum und die damit eng verbundene Raumprägung in uns vorhanden, zum anderen wirkt ein Raum, den wir unmittelbar in diesem Moment mit all unseren Sinnen wahrnehmen und durchleben, in mannigfaltiger Manier auf uns ein. In gegenseitiger Abhängigkeit gestalten sie unser effektives Raumerleben, was sich bei uns wiederum in Gefühlen oder Emotionen äussert. Doch was ist die bereits vielfach genannte Raumatmosphäre genau?

Raumatmosphären

«Diese verschiedenartigen „Räume“, die Sachlichkeit oder Feierlichkeit, Gefahr oder Unheil „ausstrahlen“, die zum Verweilen einladen oder auch Angst und Abwehr hervorrufen, sind Räume, in denen der Mensch sich zu Hause oder fremd fühlt, in denen es ihm weit ums Herz wird oder die Brust zusammenschnürt, die er als einladend oder ungastlich, als wohnlich und gemütlich oder unpersönlich und kalt empfindet. Diese Räume sind Formen ein und desselben „gestimmten Raumes“, der „je ein anderer ist, wie das Wesen, das in ihm lebt, je ein anderes ist.»1 Im Raum sind wir stets einer Atmosphäre ausgesetzt, sie umgibt und durchdringt uns, im Guten wie im Schlechten. Der Raum leiblicher Anwesenheit ist immer ein gestimmter Raum2, der seine Wirkung auf unser Innenleben ausübt. Er definiert sich durch die Eigenart seiner Umgebungsqualitäten und wie er durch ebendiese über die Wahrnehmung unsere Befindlichkeit beeinflusst. Dieses sich selbst Definieren ist Raumatmosphäre und ist «[…] die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen.»3 Raumatmosphären sind also quasi räumlich gewordene Gefühle gestimmter Räume.4


1 Vgl. Kruse 2007, S. 233

2 «Der gestimmte Raum zeigt das subjektive Empfinden und die Atmosphäre des Raumes, die durch den Protagonisten wahrgenommen wird.» (Wetter 2008, S. 5)

3 Böhme 2019, S. 34

4 Vgl. Böhme 2013, S. 16 f.

Räume der Erinnerung und Raumprägung

Peter Zumthor erinnert sich in «Architektur Denken» gerne an die Zeit zurück, in der er als Kind Architektur erlebte, ohne darüber nachzudenken. Er beschreibt seine eigene Leiberfahrung an die damalige Küche der Tante wie folgt: «Nur dieser Raum, so will mir heute scheinen, hatte eine Decke, die nicht im Zwielicht entschwand; und die kleinen sechseckigen Platten des Bodens, dunkelrot und satt verfugt, setzten meinen Schritten eine unnachgiebige Härte entgegen, und dem Kühlschrank entströmte dieser eigentümliche Geruch von Ölfarbe.»1
Es zeigt sich, dass Zumthor bei seinen Beschrieben den Raum fast ausschliesslich als Raum leiblicher Anwesenheit beschreibt. Es sind diese Dinge, die einem rückblickend in den Sinn kommen und den nötigen Halt in der Erinnerung geben, nicht Proportionen, Distanzen oder Ähnliches. Es ist die sinnliche Präsenz eines Raums, die wir, insbesondere im Kindesalter, in Erinnerung behalten.2

Von klein auf findet bei uns dadurch eine Raumprägung statt, die meist wohl eher fragmentarisch an die für uns wichtigsten und eindrücklichsten Raumeindrücke geknüpft ist und immer auch eng mit den damaligen raumunabhängigen Erlebnissen und kulturellen Begebenheiten verwoben ist. Welche Raumatmosphären wir wie erleben (ob wir sie zum Beispiel als angenehm oder unangenehm empfinden), ist durch die Raumprägung subjektiv in unser Gespür eingeschrieben und begleitet uns somit durch den Raum.
Der Philosoph Peter Sloterdijk beschreibt diesen Umstand mit «Leben lernen heisst an Orten sein lernen»3, was die Fähigkeit des Menschen beschreibt, sich einen Ort zu eigen zu machen, aber nicht als territorialen Anspruch, sondern vielmehr in einem symbolischen Verhältnis zum Raum selbst, indem sich die individuellen Lebensereignisse als eine Art «vitales Bedeutungsrelief» in den Ort einbrennen.4

Räume der Erinnerung im Entwurfsprozess

Bedeutsam werden diese Umstände vor allem für den Raumschaffenden selbst, der versucht aus seinem Erfahrungsschatz an Raumkenntnissen zu schöpfen. «Wenn ich entwerfe, finde ich mich immer wieder eingetaucht in alte und halbvergessene Erinnerungen, und ich versuche, mich zu fragen: Wie genau war jene architektonische Situation wirklich beschaffen, was bedeutete sie für mich damals, und was könnte mir helfen, jene reiche Atmosphäre wieder entstehen zu lassen […]».5 Der Architekt muss sich im Schaffungsprozess immer wieder der Tatsache gewahr werden, dass die Raumatmosphäre keine Sache ist, die man gänzlich objektivieren und verallgemeinern kann und er sich beim Ziel, eine gewisse Raumatmosphäre zu rekreieren, nicht blind auf seine Merkfähigkeit verlassen darf. Wird das Erdachte nicht selbstkritisch überprüft und soweit wie möglich objektiviert, besteht die Gefahr, dass man einer nostalgisch-subjektiven Raumfindung zum Opfer fällt, die nur für den Erschaffenden selbst Gültigkeit hat.
Um beseelte Räume und Häuser schaffen zu können, ist es für den Architekten jedoch unabdingbar, sich eines gesunden sinnlichen Pragmatismus zu bedienen, der die Dinge so festhält, wie sie uns in unserem kollektiven Erleben, durch unsere Kultur und Lebenswelt erscheinen und es dem Baukünstler überhaupt ermöglicht in diese Richtung schöpferisch tätig zu sein.


1 Zumthor 2014, S. 7

2 Es muss angefügt werden, dass die Erinnerung durch unsere Fantasie beeinflusst wird und dadurch getrübt werden kann.

3 Sloterdijk 2005, S. 408

4 Vgl. Hasse 2015, S. 26

5 Zumthor 2014, S. 8

Dinge und Subjekte im und als Raum

Die subjektive Wahrnehmung eines Ortes wird stark durch das, was uns im Raum begegnet, geprägt. Nach Gernot Böhme sind dies die «Dinge», die nebst Gegenständen, auch andere Subjekte, Situationen oder Ereignisse umfassen können, die nicht dem wahrnehmenden Subjekt angehören, aber doch mit ihm in einer Beziehung stehen. Die Einflussnahme solcher Dinge wird initiiert durch ihr «Aus-sich-Heraustreten» und äussert sich in ihren Dingeigenschaften wie Geruch und Farbe, Opazität, vielleicht auch Klang und haptische Oberfläche, sowie Form, Volumen und Gewicht.1

Ein Raum beispielsweise, in dessen Mitte sich ein schwer anmutender Tisch zeigt, wird mit Sicherheit anders wahrgenommen als derselbe Raum ohne diesen Tisch. Als weiteres Beispiel dient ein sakraler Raum, der in seiner Ausstaffierung vielleicht nicht als Ort des Gebets wahrgenommen würde, stünde da nicht dieser Altar am anderen Ende. Nicht nur der architektonische Raum selbst, sondern auch die Dinge in ihm tragen massgeblich zur Bildung von Atmosphäre bei. Es muss ergänzt werden, dass der Begriff des Dings sich jedoch nicht nur auf einen Gegenstand im Raum selbst zu beschränken braucht. Ein Gegenstand, der seinerseits raumbildend wirkt und somit unweigerlich zu einem Teil der Architektur wird, ist genauso als Ding zu bezeichnen. Es kann exempli causa eine Säulenordnung ebenso als dingliches Objekt gelesen werden wie ein Tisch oder Stuhl.
Angelika Jäkel geht hier sogar soweit, dass sie das architektonische Objekt oder Ding selbst zum Subjekt erklärt, wenn sich dieses, auf Grund einer Bewegung des wahrnehmenden Subjekts im Raum, beständig ändert und dem wahrnehmenden Subjekt andere Bewegungsmöglichkeiten, Blickbezüge und potenzielle Verhaltensweisen anbietet und dadurch mit ihm kommuniziert. Sie betitelt diesen Moment als «asymmetrische, kommunikative Beziehung» zwischen dem wahrnehmenden und dem dinglichen Subjekt.2
Da die Architektur stets in Bewegung erfahren wird, findet also eine solche Kommunikation ohne Unterlass statt und die Bewegungen im Raum und damit verbundene Raumabfolgen lassen unterschiedliche Raumatmosphären aufkommen.


1 Vgl. Rauh 2012, S. 89 ff.

2 Vgl. Jäkel 2013, S. 56

Bewegung und Raumabfolgen

In der Architektur nimmt die Bewegung eine besondere Stellung ein, da sie, wie vorausgehend angetönt, fortlaufend passiert und sich in vielerlei Hinsicht auf unsere Raumerfahrung niederschlägt. Die Bewegung des wahrnehmenden Subjekts ist dabei die Voraussetzung für das Wirken der Dinge im Raum. Zwischen dem Subjekt und den Dingen entwickelt sich eine kommunikative Beziehung, wobei die gebaute Umgebung uns eine Bewegungs-, Haltungs- und Handlungsanmutung nahelegt.1
Diese kommunikative Beziehung zeigt den Raum und seine Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln und baut Spannung auf, sie inszeniert in der Form einer promenade architecturale, oder sie kann ordnend wirken, indem einem Zimmer am Ende einer Raumabfolge eine andere Bedeutung beigemessen wird, als dem Eintrittsraum, zudem kann sie Lebensgewohnheiten unterstützen und Riten affirmieren.2 Diese Ausprägungen der Bewegung im Raum treten immer in einer Interdependenz auf, sie bedingen sich gegenseitig.

Im Hinblick auf die Bewegung kommt auch der Materialabfolge eine grosse Bedeutung zu. Stellen wir uns zum Beispiel vor, dass wir von einem harten Steinboden zu einem weicheren Holzboden übergehen, so wird die Wahrnehmung des Folgematerials (hier das Holz) in überspitzter Form unseren Sinnen dargelegt. Werden solche Materialsequenzen bewusst geschaffen und nicht zufällig gemacht, kann dies den qualitativen Wert einer Architektur bedeutsam steigern, als unser Durchschreiten derselben zu einem gesteigerten Erlebnis des Materials führt und ferner unser Raumverständnis gefördert werden kann.

Durch solch ein «bewegtes» Architekturschaffen bleibt die Architektur abwechslungsreich und die sinnliche Aufmerksamkeit des Subjekts ungeteilt dem Raum zugewendet, wodurch Synästhesien des Subjekts im Raum gefördert werden können.


1 Vgl. Jäkel 2013, S. 56

2 Hasse nennt als Beispiel dafür den Kreuzgang eines Klosters, der den Ritus des Gebets unterstützt, indem er dieser Tätigkeit im Umschreiten eine angemessene Art des Gehens zur Seite stellt. (Vgl. Hasse 2015, S. 301)

Gesamtsinnlich wahrgenommener Raum

Wenn wir von der Wesensart einer sinnlichen Ausprägung1 sprechen, ist es so, dass eine solche nur selten allein auf uns einwirkt. Es ist immer ein Zusammenspiel von mehreren sensuellen Ausprägungen zu einer ähnlichen Zeit, welche uns einen Rückschluss auf den Raum ermöglichen und uns mit ihm kommunizieren lassen. Werden im Folgenden Rückschlüsse des Menschen auf den Raum einer bestimmten Wahrnehmungsart zugeordnet, bedeutet dies also nicht, dass nur diese eine ad absolutum für den Erfolg des menschlichen Rückschlusses verantwortlich ist.

Direkte Verbindung zum Dinglichen im haptischen Raum

Der Tastsinn wird als erster und direktester unserer Sinne angesehen, bewegen wir uns doch als Kleinkinder zuerst tastend fort und überprüfen die Richtigkeit unserer restlichen sinnlichen Wahrnehmung stets mit den Fingern (auch wenn wir mit fortschreitendem Alter den übrigen Sinnen zunehmend mehr Vertrauen schenken). Wir treten durch ihn also stets in direkten Kontakt mit den uns umgebenden Dingen.2
Wird man sich der vielschichtigen Erfahrungen bewusst, die unsere Haut während eines Tastvorgangs an uns weitergibt, versteht man, wie wichtig dieser Sinn für uns ist. Der Tastsinn kommt den Dingen vor unseren anderen Sinnen am nächsten und schafft eine direkte Verbindung zwischen einem Ding und dem erfahrenden Subjekt. «Die Haut registriert Struktur, Gewicht, Dichte und Temperatur von Materialien»3 und gibt uns Aufschluss über das Aus-sich-Heraustreten von Dingen (siehe Kap. Vom Ding und Subjekt), was, wie bereits beschrieben, nachhaltig zur Atmosphärenbildung beiträgt.
Aber nicht nur die Dinge um uns herum nehmen wir über den Tastsinn war, auch das Subjekt kann sich selber über den Tastsinn erfahren, zum einen durch die eigene Berührung, zum anderen, indem wir zum Beispiel die Schwerkraft über unsere Fusssohlen wahrnehmen.4

Durch all diese feinfühligen Wahrnehmungsbestandteile des Tastens entsteht um uns der haptische Raum. Stehen wir zum Beispiel in einem Raum, den wir als Wohnraum wahrnehmen, kann dieses Gefühl durch die auf der Haut erfasste angenehm warme Raumtemperatur entstehen oder bestärkt werden und vorgelagerte, eher kälter temperierte Räume können aus haptischer Sicht einen Übergang nach draussen markieren.
Genauso verhält es sich mit der direkten Berührung von Materialien. Rauhe und grobe Oberflächen werden vielleicht eher als abweisend wahrgenommen, während samtig und weich anmutende Materialien uns eher einladen. Auch eine Zonierung kann durch diese Unterscheidung über die Haptik erreicht werden, wenn wir harten und dadurch eher abweisenden Materialien eine Schutzfunktion zuweisen und sie somit eher dem öffentlichen Raum zuordnen, um uns im privaten abzugrenzen. Weiche Materialien verwenden wir dagegen bevorzugt im Innenraum, um mit Hilfe der wahrgenommenen Wärme und Behaglichkeit, die sie ausstrahlen, die Privatheit des Raums zu zelebrieren!

Akustisch geführte Orientierung und Emotionen

Die klangliche Raumerfahrung ist die kommunikativste und beständigste unter den sinnlichen Erfahrungsweisen. Während ein Raum beispielsweise Blicke kaum erwidern wird, spricht er uns in akustischer Hinsicht direkt an. Er begleitet unsere Bewegungen akustisch im wahrsten Sinn auf Schritt und Tritt, reflektiert unsere Interaktion mit Objekten im Raum und auch mündlich Geäussertes beantwortet er uns unablässig in Form des Widerhalls. So spielt er uns Informationen über seine eigene Beschaffenheit zu, die er durch seine Klangart und insbesondere Klangdauer zu variieren vermag.5

Die Stimme des Raums, in diesem Fall, äussert sie sich als Echo, gibt uns Aufschluss über die Grösse des Raums und in gewissen Fällen sogar über seine Form. Ein grosser und weiter Raum, der den Widerhall weitreichend verteilt und monumental zu klingen vermag, äussert sich ganz anders als ein kleiner Raum, der eher intim klingt. Gleichfalls kann er uns allein durch eine verlängerte oder verkürzte Nachklangzeit anzeigen, ob er zum Beispiel möbliert ist oder eben nicht. Während in einem leeren Raum der Klang hallender an unser Ohr tritt, wird bei einem vollgestellten Raum der Ton an den verschiedenen Dingen im Raum gebrochen und daher kurzgeschnitten zu uns zurückgeworfen.
Auch der direkte Abklang der Schritte oder der einer Objektinteraktion, zum Beispiel ein Stuhlrücken, können uns Aufschluss über die Bodenbeschaffenheit und -materialität geben. Als Beispiel sei hier der gedämpfte, kaum wahrnehmbare Klang der Schritte auf einem dicken Teppich genannt, als gegenteiliges Beispiel der harte Klang desselben Schritts auf einem massiven Steinboden.
Peter Zumthor zeichnet in «Atmosphären» ein schönes Bild des Raums als grosses Instrument, dass je nach Beschaffenheit, durch seine Form, Oberflächen der Materialien und ihre Befestigung, einen eigenen Raumklang erzeugt.6

Dies bedeutet für uns als Subjekt, dass Raumhören «[…] ein Gefühl der Verbundenheit und Zusammengehörigkeit schafft».7 Das Hören nimmt als ungerichteter Sinn Signale aus allen Richtungen auf und schafft durch seine empfangende Natur diese distanzlose Innenwelt.
Es ist interessant zu beobachten, wie in Momenten, in denen wir uns vor allem unserer hörenden Wahrnehmung hingeben, allein ein akustischer Impuls, dessen Urheber weit entfernt sein kann, eine Situation in unserer Vorstellung nah an uns heranträgt und uns quasi am Geschehen im Umraum8 indirekt Anteil nehmen lässt. Speziell auffallen kann uns dieses Phänomen, wenn wir abends im Bett liegen und draussen das Leben noch rege weitergeht. In dieser Situation fühlen wir uns trotz der räumlichen Distanz und Trennung noch stark als Teil des Umraums, indem wir eingebettet sind.9

Nach Gernot Böhme hat der Komponist R. Murray Schafer in den Siebzigerjahren im Projekt «Soundscape» erstmals die Welt der Geräusche in natürlichen und artifiziellen Umgebungen erforscht und dokumentiert. Er hat dadurch die charakteristisch hörbare Gestalt von Lebensräumen erkennbar gemacht und Justin Winkler hat gemäss Böhme in seiner folgenden «Untersuchung zur Konstitution der klanglichen Umwelt» dargelegt, dass auch ein Gefühl wie Heimat durch den Ton einer Gegend vermittelt wird und dass der akustische Raum unter anderem für das Empfinden einer städtischen oder ländlichen Atmosphäre mitverantwortlich ist. Die klangliche Raumerfahrung trägt also nicht nur zu unserer direkten Orientierung im Raum bei, sondern ruft auch Emotionen hervor.10

Juhani Pallasmaa und Böhme machen in dieser Hinsicht die Wichtigkeit des Hörsinns weiter deutlich, indem sie auf den Verlust der Plastizität einer Filmszene hinweisen, wenn man diese stumm schaltet. Solch tonlose Filmszenen verlieren sofort an Glaubwürdigkeit, was in früheren Stummfilmen durch schauspielerische Übertreibungen wett zu machen versucht wurde. Musik oder allgemeines akustisches Geschehen wird im Film hinterlegt, um Emotionen und Atmosphäre zu schaffen.11 12

Der olfaktorische Raum, Ortmomente und geruchliche Informationsvermittlung

Oft sind es die Gerüche, die uns in Verbindung mit Gefühlen am stärksten in Erinnerung bleiben. Die Wissenschaft nimmt an, dass dies mit der direkten Verknüpfung unserer Geruchsnervenpfade mit dem Hippocampus zusammenhängt. Da dieser auf dem Weg ins Langzeitgedächtnis keine Informationen aussortiert, können Gerüche unmittelbar an eine Erinnerung geknüpft gespeichert werden.13
Düfte haben dadurch die wunderbare Fähigkeit uns an Ortmomente14 zu führen, die zurück in einer längst vergangenen Zeit liegen. Jedermann kennt dieses Phänomen. Man riecht etwas, das zum Beispiel als Kind bereits gerne gerochen wurde und ehe man sich versieht, findet man sich in einer Erinnerung an dem damaligen Ort wieder.15
Doch Düfte rufen nicht nur Erinnerungen wach, sie können uns auch den Weg weisen, uns durch Räume führen, man denke hierbei an den wohligen Geruch aus der Küche zur Mittagszeit, der uns auf direktem Weg anzieht und mitteilt, was in diesem Raum stattfindet.

Nicht minder wie dieser Duft nach Speisen durch Menschen und ihre Art der Raumnutzung erwirkt wurde, hat die Architektur ihr ganz eigenes Odeur. Jeder Baumeister hat unzählige Male den unverkennbaren Duft von frisch gegossenem Beton und Mauerwerk, sprich Rohbau, in der Nase gehabt und jede Wohnung hat ihren speziellen Eigengeruch, der nicht nur durch die Bewohner hervorgerufen wird. Die verwendeten Materialien spielen geruchlich eine wichtige Rolle, so riecht ein Haus aus Holz ganz anders als ein Haus aus verputztem Mauerwerk. Es gibt sogar Materialien, die Gerüche binden und die Raumluft geruchlich quasi reinhalten, wie Lehm und Kalk.

Aus der Erfahrung heraus muss jedoch gesagt werden: je natürlicher die Raumwelt gestaltet wurde, sprich je naturbelassener die verwendeten Baumaterialien sind, desto vielfältiger ist auch die Geruchswelt in einem Gebäude. Gebautes, das aus artifiziellem oder bis zur Unkenntlichkeit verfremdetem Material besteht, wie zum Beispiel Feinsteinzeug oder Kunststoff, ist mit einer Geruchsneutralität gestraft, die in uns keine Erinnerungen mehr hervorzurufen vermag. Nichts ist der sinnlichen Raumwahrnehmung in olfaktorischer Hinsicht abkömmlicher als Sterilität.

Architektonische Einverleibung des gustatorischen Raums

Auf den ersten Blick würde man dem Geschmackssinn im architektonischen Kontext wohl keine Bedeutung zukommen lassen, doch sogar dieser Sinn, der vornehmlich dem kulinarischen Erleben dienlich ist, kann unser Raumerleben auf eine ganz spezielle Art und Weise prägen.

Pallasmaa beschreibt die gedankliche Assoziation von einem Material mit einer gustatorischen Erinnerung, indem er die gedachte Verbindung von gesehenem Veroneser Marmor mit etwas Süssem ins Feld führt.16
Doch auch eine indirekte Einverleibung der wahrgenommenen Architektur, im Baukörper selbst, ist möglich, wie zum Beispiel Tanizaki Jun’ichirõ sie in seinem Buch «Lob des Schattens» beschreibt. Darin führt er auf, wie er die in Japan traditionsreiche Süssspeise Yõkan verzehrt und dabei das Gefühl hat, «[…] die im Zimmer herrschende Dunkelheit sei gewissermassen zu einem süssen Klumpen geronnen, der nun auf der Zungenspitze zergeht».17
Weiter fügt er an, dass der Appetit abnimmt, wenn das dingliche Drumherum nicht stimmig zur gegessenen Speise passt, was ein weiteres Indiz dafür ist, dass der gustatorische Raum in indirektem Zusammenhang mit unserem Gaumen steht.18

Raumaneignung zwischen Licht und Schatten

Wie anfänglich erwähnt wurde, ist die visuelle Komponente des Architekturschaffens bereits in vielerlei Texten und Zeichnungen erläutert und erklärt, von Proportionalität und Massstab, nach Vitruv bis Corbusier, von Farbe und (kein) Ornament, nach Demokrit bis Itten und Loos, wurde in dieser Hinsicht bereits viel ge- und erfunden.19

Etwas weniger bekannt und verbreitet ist bei uns im Westen die Lehre zu Licht und Schatten in der Architektur, obwohl es gerade der Schatten ist, der unsere Wahrnehmung im Raum sehr stark beeinflusst.
Tanizaki Jun’ichirõ beschreibt unsere westliche Wohnkultur in «Lob des Schattens» gar als schattenscheu, da wir unseren ganzen Innenraum mit Tages- oder Kunstlicht auszuleuchten versuchen, um möglichst jeden Schatten zu vertreiben und dies nicht nur, um eine Tätigkeit im Dunkeln zu ermöglichen.20
Doch wenn wir uns fragen, welche Situationen wir im Alltäglichen als besonders atmosphärisch und sinnlich empfinden, sind es meistens Momente, die wir «nur» im Halblicht erleben. Atmosphärisch aufgeladen sind die Abendstunden, in denen langsam alles ins Dämmerlicht getaucht wird. Als gemütlich oder gesellig bezeichnen wir ein Beisammensitzen am Feuer bei umgebender Dunkelheit. Wenn wir uns den körperlichen Annäherungen unserer Liebsten oder unseres Liebsten hingeben, tauschen wir gerne das Scheinwerfer- gegen Kerzenlicht ein und in Augenblicken der Ekstase neigen wir sogar dazu den Sehsinn gänzlich auszuschalten. Wir geben uns im Schatten auf, um uns gänzlich auf unsere anderssinnliche Wahrnehmung einzulassen.21
«Als essenziell erscheinen deshalb dunkle Schatten und tiefe Dunkelheit, nehmen sie doch der visuellen Wahrnehmung ihre Schärfe, verleihen der Tiefe und Ferne wieder ihre Mehrdeutigkeit und laden so zu unbewusstem peripherem Sehen und zu den Fantasien des Taktilen ein.»22
Das periphere Sehen ist nicht auf einen zentralen Punkt gerichtet, sondern vielmehr wird die weitere Umgebung visuell mit aufgenommen und dem zentralen Sehen zugänglich gemacht. Zentrales und peripheres Sehen ergänzen sich also. Durch die Unschärfe dieses peripheren Bereichs, wird nach Pallasmaa nicht nur der Sehsinn zusätzlich mit Informationen versorgt, nein, auch die anderen Sinne werden in ihrer Aktivität beflügelt und die Situation ebendaher mit all unseren Sinnen ganzheitlicher wahrgenommen. Indem der Schatten und die Dunkelheit dem Auge die Schärfe nehmen, befeuern sie folglich unsere übrigen Sinne und laden uns ein wieder vermehrt gesamtsinnlich am Geschehen teilzunehmen. Gute Architektur ist in diesem Sinn Erotik, nicht Pornografie. Es kommt gewissermassen eine mystische Komponente23 hinzu. Ecken, die im Dunkeln liegen, oder ein Licht, das uns dezent aus dem nächsten Raum entgegenscheint und den Weg weist, beflügeln unbewusst unsere Fantasie und Vorstellung über das, was dieser Raum ist und ausmacht. In dieser Hinsicht wird gleichsam die plastische Wirkung des Raums verstärkt, indem unserem Geist das Fertigzeichnen der Raumkontur überlassen wird. Wir als Besucher komplettieren den Raum mit unserer Synästhesie der Sinne, sowie Imagination, und machen ihn so zu unserem eigenen Raum.


1 Mit anderen Worten: eine mögliche Einflussart unserer Sinne auf uns als Mensch, wie zum Beispiel der Klang unserer Schritte im Ohr oder das Gefühl von Wärme, das eine haptische Berührung auf der Haut auslösen kann.

2 Vgl. Vischer 2007, S. 42

3 Pallasmaa 2013, S. 71

4 Vgl. Pallasmaa 2013, S. 73

5 Vgl. Pallasmaa 2013, S. 62

6 Vgl. Zumthor 2006, S. 29

7 Pallasmaa 2013, S. 64

8 Der Raum, der uns nicht unmittelbar umgibt.

9 Vgl. Pallasmaa 2013, S. 63

10 Vgl. Böhme 2013, S. 78 f.

11 Vgl. Pallasmaa 2013, S. 63

12 Vgl. Böhme 2013, S. 85

13 Vgl. Wikipedia, Olfaktorische Wahrnehmung

14 Momente, deren Erleben eng mit einem Ort verknüpft sind.

15 Touzel 2013

16 Vgl. Pallasmaa 2013, S. 75

17 Jun’ichirõ 2010, S. 33

18 Vgl. Jun’ichirõ 2010, S. 34

19 Vgl. Buether 2002, S. 28

20 Vgl. Jun’ichirõ 2010, S. 73

21 Vgl. Pallasmaa 2013, S. 58

22 Pallasmaa 2013, S. 58

23 Im Sinne von geheimnisvoll oder unergründlich.

Zweiter Teil

Während das «Haus an der Taastrasse» direkt begangen und das unmittelbar Wahrgenommene beschrieben wird, muss bei Zumthors «Therme in Vals» die Atmosphäre aus der Sicht der Erinnerung an das Badeerlebnis geschildert werden. Im Anschluss an den zweiten Teil des Elaborats ist eine Bildstrecke aufgeführt, welche das Haus an der Taastrasse in Lichtbildern zeigt, es ist dem Leser freigestellt sich diese parallel zur Lektüre zu Gemüte zu führen, wobei es sich empfiehlt, dies erst im Nachhinein zu tun, um sich nicht bereits im Vorfeld jeder bildlichen Fantasievorstellung zu entledigen, die den Reiz des Lesens der beiden kommenden Kapitel zu einem grossen Teil ausmacht.

Das Haus an der Taastrasse

Hinter haushohen Nadel- und Laubbäumen verborgen, steht das Haus, das ich bereits als Kind stets lieber betreten als verlassen habe. Ich sehe mich um und mir wird bewusst: Es ist in keiner Weise aufdringlich, fast schon unscheinbar, es steht da, verwurzelt, als wäre es schon immer ein Teil dieses Orts gewesen.
Nahe der Hauseinfahrt, führen ein paar Stufen und ein schmaler mit Pflastersteinen belegter Pfad zwischen den Bäumen hindurch zum Eingang. Das Moos auf den alten Stufen hält mich zurück und lässt meinen Fuss nur vorsichtig auftreten. Mein Schritt verlangsamt sich und wird bedächtig.

Am Eingang angekommen erhascht man einen flüchtigen Blick durch die Küche in den dahinterliegenden, sonnengetränkten Garten. Das Haus entbietet dem Besucher mit dieser Geste des sich Öffnens ein Willkommen.
Ich reiche ihm die Hand und drücke die Türklinke nach unten. Im Halbdunkel ist die Garderobe kaum zu erkennen. Von hinten rechts spüre ich das kalt-blaue Aussenlicht des Äthers, das sich nur mühsam an der grob gekalkten Wand vor mir zu brechen scheint. Mein Blick wandelt von sich aus nach oben zur zweiten Lichtquelle im Raum. Hier entdecke ich erneut das warme Licht des Gartens. Es ist an den hölzernen Deckenbalken entlang durch die Küche gewandert und leuchtet nun warm-golden aus dem dünnen Glas, zwischen dem Gebälk hervor. Ich fühle, wie das Haus mich weiter zu sich holt. Zurück nach draussen ins kalte Blau will ich nicht.

Dick, dunkel und unregelmässig ziehen sich die Fugen zwischen den braunen Tonplatten durchs Erdgeschoss. Jede Platte wird einzigartig verziert durch ihre Textur, betritt man sie barfuss oder auf dünnen Sohlen, scheinen diese Tonquadrate unter einem zu tanzen. Ich lasse mich führen, sie tragen mich durch den Raum. Den Blick lasse ich zu der als Quader in die Wand gestellten Feuerstelle schweifen, an der vorbei das durch die Blätter der Gartengewächse zerstreute Lichtspiel ins Haus fällt. Wie hell und heiter einem dieser Garten erscheint, steht man im Schatten unter dem tief liegenden Vordach der Veranda. Durch die grossformatigen, quadratisch unterteilten Fenster mit Sprossen, wirkt er einem sehr nah, man ist im Innern ein Teil des Äusseren. Nur fein zonierend, auf keinen Fall trennend, wirkt die durch das Vordach geschaffene und auf Holzstützen gestellte Laube. An dieser Stelle hat man das starke Haus schützend im Rücken, es schirmt ab von den Unsicherheiten des öffentlichen Lebens, was den Garten zu einer eigenen, kleinen Insel der Ruhe werden lässt. Und dieser Garten ist schön! Ringsum gefasst von Bäumen und Sträuchern, im Osten und Westen zwei belebte Teiche und dazwischen die Blumenwiese. Jetzt wird mir klar, wie wichtig dieser nähere Umraum ist, er malt die Innenräume des Hauses aus.

Diese Räume werden von natürlichen Materialien geschaffen. Im Norden zieht sich die weiss gekalkte Mauer nach oben. An ihr entlang erklimme ich eine hölzerne Treppe und fühle die Holzmaserung des Handlaufs in der Hand und die der Stufen an den Füssen. Gegenwärtig steigt mir der Duft vom geseiften Tannenholz in die Nase, einer der Düfte meiner Kindheit. Sofort finde ich mich in alten Erinnerungen dieser Tage wieder. Die breiten Tannenholzdielen schmiegen sich eng aneinander, die Privatheit dieser Räume kommt im Boden zur Geltung. Er ist so weich, dass er sich auf der Haut wie leicht gefilztes Papier anfühlt und ich könnte mir ohne weiteres vorstellen, auf einer dünnen Unterlage darauf zu nächtigen.

Das Dach ragt steil in den Himmel empor und entschwindet in der Düsternis, die in den Balken des Dachstuhls festhängt. Die Schwärze macht das Obergeschoss aber nicht zum Unort, im Gegenteil, im lichterfüllten Nähatelier meiner Tante gibt dieser Kontrast dem Raum die nötige Tiefe, die diesem heimeligen holzgeprägten Zimmer gut tut, sie verleiht ihm eine vorteilhafte Geräumigkeit. Versuche ich das Haus als Ganzes zu erfassen, muss ich eine gewisse Grosszügigkeit konstatieren. Auf Grund der erwirkten Zonierung und feingliedrigen Unterteilung der Räume fühlt man sich indes nie verloren oder gar unbehütet im Raum. Ich erinnere mich dabei insbesondere an den stählernen Ofen mit dick gemauertem Kamin, der den Essbereich vom Wohnzimmer klar unterscheidet, aber nicht gänzlich trennt.
Weiter stelle ich fest, dass manch ein Detail handwerklich vielleicht etwas vage gelöst ist, doch man verzeiht es hier gerne, weil das Haus an der Taastrasse in seiner Gesamtheit stimmig ist; es sämtliche Sinne immer wieder aufs Unterschiedlichste erregt; durch das tiefe schützende Dach Geborgenheit bietet, aber trotzdem den Garten nicht ausschliesst; fein zoniert grosszügig, aber nicht ausladend wirkt und Licht und Schatten zur Atmosphärenbildung einsetzt. Das Haus ist kein eingebildetes Hochglanzobjekt, das nur im Kopf und Bild ersinnt, verspricht, was es in der Realität nicht halten kann. Man merkt es ihm an, dieses Haus wurde zu einem grossen Teil durch den haptischen Entwurf und die sichtbare Handarbeit zu dem geformt, was es ist: ein gefühlt guter Raum.

Die Therme in Vals

Kalter Odem, der in leiser, geruchlicher Botschaft den ersten Valser Schnee ankündet, streicht uns sanft entgegen. Tief inhaliere ich die Frische, die jeden unserer Schritte begleitet. Auf fein geschnittenen Valser Granitstreifen werden wir am Hang entlang nach oben geführt. Zurückgelegter Weg wird durch die am Fuss gespürte Fügung des Steins vergegenwärtigt. So wird dieser Pfad zu einem amuse-bouche.
Nach der ersten Biegung fällt sie mir ins Auge. Die Therme. Etwas zu monumental, mein erster Eindruck, doch sauber arrangiert, jede Öffnung hat ihren Platz gefunden, die Fugen sitzen und sind gut gelungen. Doch an Steine, die aus dem Berg gebrochen im Wasser stehen, erinnert mich das nicht. Vielleicht habe ich aus der Distanz bereits zu viel über diesen Ort erfahren, mir in Gedanken ein Bild vorgezeichnet, dass nun auf der natürlichen Leinwand des Berghangs nicht ausgemalt werden kann. Speziell denke ich mir. Trotz der grossen, in tiefen Laibungen sitzenden Fenster, wirkt ihre äussere Haut zu massig und undurchlässig, um dieses Versprechen einlösen zu können.

Im Hotelinnern ein Gang in Richtung Bad, als klarer Übergang von Zeit geprägtem zu zeitlosem Raum. Eine schöne Geste, die Wirkung zeigt. Ein Dutzend Schritte weiter gewinnt die Therme mich für sich.
Ich folge einem weiteren, langen, ruhig vor mir liegenden Gang. Friedvoll plätschert das Mineralwasser der Quelle an der aus Stein gegossenen Wand nach unten und macht die Ausdauer der Zeit durch eisengefärbte Betonzeichnungen sichtbar. Aus der Decke malen die Lampen in regelmässigem Abstand ihren Kegel auf das Fundament. Mit jedem getanen Schritt gibt mir dieser Gang etwas mehr Ruhe zurück, der Atem verlangsamt sich und wird tiefer. Anstatt der Brust hebt und senkt sich nun der Leib zum Rhythmus des Lichts. Diese Atmosphäre des sich Lösens und Entkrampfens trägt mich in die Ankleide, wo mir in sattem Rot gemasertes und glatt poliertes Holz entgegentritt. In dieser Wand gewordenen Wärme, entkleide ich mich ohne Vorbehalt gerne. Durch das Geräusch der über die schmale Metallstange schleifenden Vorhangringe der Umkleidekabine, wird mein Sehsinn für die feinen Details dieser Arbeit Zumthors geschärft.

Eintritt in die Badelandschaft. Durch einen schmalen Deckenspalt fällt ein schmaler, scharfer Streifen Tageslicht auf die weitläufigen Treppenstufen, die vor uns liegen. Geführt vom Licht steigen wir ins Herz der Therme hinab.
Nun zeigen sich die Steinquader im Wasser und ich empfinde das Gefühl, das Zumthor in seinem Entwurf antizipiert: Baden in einem Steinbruch, gefüllt mit Wasser. Ich rieche und höre das Wasser von irgendwoher plätschern und fühle die Kälte und harte Textur des Steins unter mir.
Der Klang des herabfallenden Wassers bewegt mich nach vorne, das spärliche Licht, das sich aus dem Steinquader vor uns stiehlt, weckt meine Neugier. Nun will ich die Therme entdecken.

Behutsam betrete ich die steinerne Höhlung. Ein paar Schritte weiter trete ich durch die Berührung mit dem dicken Metallknauf, der die Dusche bedient, in unmittelbaren Kontakt mit dem Gebäude. Wir geben uns die Hand. Kurz aber merklich hart gehebelt prasselt Augenblicke später von hoch oben aus der Dunkelheit das lauwarme Wasser auf mich herab.

Nach diesem ersten Wasserkontakt zieht mich das Licht direkt in den vorderen Teil des Gebäudes. Hier geht der Innenraum durch die mächtigen Fenster nahtlos in den Aussenraum über. Auf einer filigranen Holzliege ruhend, sehen wir uns den Windtanz der zum Greifen nahen Tannenwipfel an. Das Bergpanorama im Hintergrund mimt das Bühnenbild dieser Aufführung. In den folgenden Steinkammern berührt uns das Bad allsinnlich. Einmal spüren wir das Wasser heiss auf der Haut, wobei sich ein anfänglich ungewohntes Brennen zur wohligen Wärme wandelt; ein andermal nimmt uns die kalte Berührung knapp den Atem, um uns dann zu entspannen; dann wieder riechen wir die Blumen des Blütenbads, die vor unseren Augen scheinbar schwerelos und wunderbar durch das Wasser schweben. All diese unterschiedlichen Bäder reizen unsere Sinneswahrnehmung sehr authentisch und sind in ihrer Art kaum mehr steigerbar. Und der Schlusspunkt auf unserem Rundgang, ein Trinkstein, bietet uns eine ganz besondere Art des Architekturerlebens. Durch ihn lässt uns Peter Zumthor das stark mineralische Wasser der Quelle kosten, was uns die vorhandene Architektur auf direktem Weg schmecken lässt. Auf diesem Weg nehmen wir die Architektur sogar unverfälscht oral wahr. Dieses Gebäude ist auf so vielen Ebenen gelungen ein Gesamtkunstwerk, kommt ohne unnötigen Schnickschnack aus und besinnt sich in seinem Grundsatz zurück auf das Wesentliche der Architektur. Sie zeigt zueinander in Spannung versetzte, wohl komponierte Körper; Materialien, die fein abgestimmt zueinander finden und vor alledem stellt sie das Wasser ungetrübt in den Vordergrund. Die Valser Therme beherbergt in einfachster und vollendeter Form gefühlt gute Räume.

Der gefühlt gute Raum

In den vorangehenden Kapiteln wurde der Raum und unser Erleben desselben besprochen. Wir nehmen Raumatmosphären über unsere Sinne wahr, werden von Raumerinnerungen und der vorangehenden Raumprägung in unseren Emotionen beeinflusst. Hervorgerufen wird dieses Geschehen durch die Dinge und Subjekte im und als Raum selbst.

Da unser Raumempfinden zu einem grossen Teil subjektiver Art ist und sich sehr vielschichtig und komplex gestaltet, kann nicht abschliessend geklärt werden, was denn nun gefühlt guten Raum in einem allgemeingültigen Kontext ausmacht, oder wie er als Ganzes zustande kommt. Indes kann man, auf den architektonischen Entwurf bezogen, gewisse Leitgedanken fassen, um von diesen ausgehend das Erlebnis des gefühlt guten Raums in bester Absicht, unter Berücksichtigung des kulturellen Kontextes und der «Neutralisierung» der eigenen Raumprägung zu evozieren.

Form, Material und Detaillierung

Um dem fokussierten Sehen gerecht zu werden, müssen Baukörper und Details mit der nötigen Sorgfalt und nachvollziehbar, in der Form und dem Material, der Sache entsprechend gemacht werden. Die Aufmerksamkeit auf gut detailliertes Lenken kann der Baukünstler indem er insbesondere den Tast- und Hörsinn am Erlebnis teilhaben lässt, da diese direkter mit einem Detail verknüpft sind als zum Beispiel der Geruchssinn. Die Stoffaufhängung der Umkleidekabine in der Therme Vals zeigt uns diese Begebenheit unmissverständlich auf. Das wahrnehmende Subjekt empfindet eine sorgfältig gemachte Arbeit immer als wertvoller und somit als bedeutender und unentbehrlicher als eine unfeine. Wobei der Hang zur Sorgfalt nicht mit einem Übermass an gestalterischem Willen zu verwechseln ist, der Pfad zwischen Detailtreue und kreativer Dekadenz ist zuweilen sehr schmal. Es braucht im Schöpfungsprozess Raum für den Zufall und das Spontane.
An dieser Stelle kann der Sehsinn, da er den anderen Sinnen vorauseilt – richtig bedient – als Initiant der Atmosphärenwahrnehmung angesehen werden. Er spielt insofern eine Vorreiterrolle, ist jedoch nicht allein für die erst später einsetzende Empfindung eines Raums als gefühlt guter Raum verantwortlich.

Licht und Schatten

Vom gerichteten Sichten kommen wir zum weiterführenden, peripheren Sehen, das unsere Wahrnehmungslust wachrüttelt. Die Gestaltung von Schatten oder der überlegte Einlass von Licht in die Dunkelheit bedingen unser peripheres Sehen und entfalten eine mystische Wirkung auf uns. Sie wirken aus dieser Warte als Träger der Raumatmosphäre.
Weiter bedingen sich diese beiden Gegensätze dermassen, dass das eine nicht ohne das andere als schön und bereichernd empfunden werden kann. Ist es nur dunkel, fühlen wir uns verloren und ängstlich, ist es nur hell, empfinden wir dies als unangenehm. Es braucht das richtige Mass vom einen, um das andere zur Geltung zu bringen und es in angenehmer Form als nicht alltäglich herauszustellen. Schön zu beobachten ist dieses Phänomen in der Natur, wenn die ersten Sonnenstrahlen des Tages durch das noch feuchte Blätterdach in den dunstgetränkten Wald einfallen und sich in der Luft abzeichnen.

Gestik und Kommunikation des Raums

Wie im Kapitel «Dinge und Subjekte im und als Raum» artikuliert stehen wir in ständigem Austausch mit unserer Umgebung. Der Raum und die Dinge in ihm kommunizieren unablässig mit uns als Subjekt, indem sie uns den Weg durch die Architektur zeigen oder eben auch nicht, uns einladen ihn zu betreten oder uns eher davon abhalten etc.
Gut gestimmte Räume sind Meister der Kommunikation und vermitteln für uns gut verständlich ihre Absichten. Schön zu erleben ist dies im Eingangsbereich an der Taastrasse, wo das Haus einem auf eindeutige Art und Weise, jedoch trotzdem unaufdringlich, willkommen heisst. Auch die Therme agiert kommunikativ, wenn uns beispielsweise die Umkleide durch ihre warme Anmutung zum Ausziehen verführt, oder uns ein Lichtstrahl den Weg über die Treppe nach unten in die Badewelt weist. Derart gestaltete Gebäude hinterlassen bei uns keine Fragezeichen bezüglich der Nutzung, im Gegenteil, sie nehmen uns bei der Hand und begleiten uns auf unserem Weg durch die Architektur.

Zonierung des Raums und Umgang mit dem Umraum

Ist ein Raum nur als riesige Fläche angelegt, wirkt diese ausladend und fremd auf uns. Ist er hingegen taktvoll in kleinere für uns leichter erfassbarere und somit intimere Ausschnitte aufgeschlüsselt, wird er von uns besser annektiert, wir beleben den Raum in dieser Form lieber. Natürlich ist das Mass der Zonierung direkt auf die Art der Nutzung und den Grad der Öffentlichkeit/Privatheit des Raums zu beziehen und sollte nicht als Zwang zur «Raumzerstückelung», also der Konstituierung eines nur autistisch und fragmentarisch vorhandenen Raumkonglomerats missverstanden werden. Die Art der Trennung ist in diesem Zusammenhang von grossem Belang, so kann etwa eine nicht raumhoch gehaltene Feuerstelle einen Wohn- vom Essbereich lösen und doch genügend Durchsicht ermöglichen, um diese zusammenzuhalten. Genauso verhält es sich mit den im Maison de verre von Pierre Chareau eingesetzten Glasbausteinen, die den Hausinnenraum zwar vom Umraum abteilen, ihn aber durch ihren transluzenten Charakter nicht gänzlich abkapseln. Hier werden dem Auge von aussen die Dinge im Innern und von innen die Dinge im Aussen schemenhaft zugänglich gemacht.

Dem Umgang mit dem Aussen, dem näheren und weiteren Umraum, ist die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken wie der inneren Zonierung. Ein Gebäude steht immer unter äusseren Einflüssen, die den Ort, an dem es steht, ausmachen. Werden diese gekonnt in die Komposition mit eingebunden oder bewusst davon ferngehalten, hilft dies dem Gebäude sich an dieser Stelle zu verorten und mit dem vorhandenen Genius Loci in Verbindung zu treten. Das Haus an der Taastrasse tut dies, indem es, wie beschrieben, den Garten von der Strasse dahinter separiert, ihm aber nicht den weiteren Umraum des Dorfes entzieht. So nimmt man im Garten sitzend die Kirchenglocken akustisch wahr und bleibt durch solche und andere Interaktionen mit dem Dorf in angenehmer Verbindung. Man ist in seiner Privatheit doch ein Teil des Ganzen.

Gesamtsinnliche Berührung

Zum Schluss möchte ich noch einmal das Kapitel «Gesamtsinnlich wahrgenommener Raum» in den Vordergrund stellen. Die in dieser Abhandlung studierten Bauwerke sind sich insbesondere in einem Punkt gleich: beide setzen sich aus Räumlichkeiten zusammen, die all unsere Sinne auf vielschichtige Art berühren. Der geschulte Raumwanderer nimmt diese Bewandtnis zweifelsohne bewusster wahr als ein nichtkundiger, doch in jedem Fall ergreifen uns diese Räume mit ihrem Wesen und gehen uns nahe. Da wäre der tanzende Boden im Haus meiner Tante als taktile Erfahrung oder der gustatorische Trunk der Architektur selbst am Trinkstein der Therme Vals als Vorbild zu nennen. Bauten, die uns so zu Herzen gehen, bieten uns ein synästhetisches Erlebnis, sind allsinnlich interessant, wir beleben sie gerne, sie bleiben uns in guter und langer Erinnerung und lassen uns erneut freudig an diesen Ort zurückkehren.

Das hier Beschriebene ist nicht als eine abschliessende Betrachtung der Materie anzusehen. Wie Peter Zumthor in «Der harte Kern der Schönheit», in Anlehnung an den Dichter William Carlos Williams und den Schriftsteller Italo Calvino, festhält, entwickeln Bauwerke, ähnlich den Kunstwerken, ihre Kraft und Schönheit erst gar, wenn sie dem Vagen, Unbestimmten und Offenen, also dem Empfinden des Subjekts, eine Bühne bieten. Als Architekt will man also im besten Fall die Emotionen nicht hervorrufen, sondern sie zulassen.1
Um dies zu erreichen, muss die Architektur Leitgedanken dieser Art aufnehmen, gut geformt und überaus präzise reduziert werden, sowie das Material orchestriert und das Detail hingebungsvoll und mit Liebe gestaltet sein. Ich denke, genau unter diesen Aspekten sollte die Schaffung von guter Architektur und der gefühlt gute Raum per se betrachtet und ins Werk gesetzt werden. Auf diese Art und Weise entstehen beseelte Häuser.


1 Vgl. Zumthor 2014, S. 29 f.

Bilderstrecke zum Haus an der Taastrasse


Quellen:

Binswanger Ludwig: «Das Raumproblem in der Psychopathologie», in: Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, Bd. 2, Bern 1955, S. 174-225.

Böhme Gernot: Architektur und Atmosphäre; München 2013.

Böhme Gernot: Atmosphäre, Essays zur neuen Ästhetik; Berlin 2019.

Buether Axel: Farbe und Architektur, Dokumentation Theorieseminar; Cottbus 2002; axelbuether.de, Eingesehen am 27.04.2020.

Franck Dorothea und Georg: Architektonische Qualität; München 2008.

Günzel Stephan: Raum, Eine kulturwissenschaftliche Einführung; Bielefeld 2020.

Hasse Jürgen: Was Räume mit uns machen – und wir mit ihnen; München 2015.

Jäkel Angelika: Zur leiblichen Kommunikation zwischen Benutzer und Raum in der Architektur; Berlin 2013.

Jun’ichirõ Tanizaki: Lob des Schattens; München 2010.

Kruse Lenelis: «Räumliche Umwelt. Die Phänomenologie des räumlichen Verhaltens als Beitrag zu einer psychologischen Umwelttheorie», in: Friedrich Thomas und Gleiter Jörg H. (Hrsg.): Einfühlung und phänomenologische Reduktion, Grundlagentexte zu Architektur, Design und Kunst; Berlin 2007, S. 233-250.

Le Corbusier: Towards a New Architecture, Architectural Press; London 1959.

Levin David Michael: Modernity and the Hegemony of Vision; Berkeley 1993.

Pallasmaa Juhani: Die Augen der Haut, Architektur und die Sinne; Los Angeles 2013.

Rauh Andreas: Die besondere Atmosphäre, Ästhetische Feldforschungen; Bielefeld 2012.

Sloterdijk Peter: Im Weltinnenraum des Kapitals; Frankfurt 2005.

Touzel Maximilian Puelma: Warum wecken Gerüche alte Erinnerungen; www.ds.mpg.de. Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, Rubrik «Archiv 2013, Frag den Wissenschaftler». Eingesehen am 05.05.2020.

Vischer Robert: «Über das optische Formgefühl», in: Friedrich Thomas und Gleiter Jörg H. (Hrsg.): Einfühlung und phänomenologische Reduktion, Grundlagentexte zu Architektur, Design und Kunst; Berlin 2007, S. 37-70.

Wetter Valérie: Theoretische Überlegungen zum Raumbegriff; Kiel 2008.

Wikipedia: Olfaktorische Wahrnehmung; de.wikipedia.org/wiki/Olfaktorische_Wahrnehmung, Eingesehen am 27.05.2020.

Zumthor Peter: Atmosphären; Basel 2006.

Zumthor Peter: Architektur Denken; Basel 2014.

Die folgenden Bücher unterstützten die Erkenntnisgewinnung:

Text: Christoph Ritler; Fotografie: Christoph Ritler

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