Wabi-sabi, die Moderne und mögliche Auswirkungen auf unsere westliche Architektur

Die Patina des Alters

Für viele von uns Westlern umgibt die japanische Kultur, mit ihren Bräuchen und Tugenden, eine Art Geheimnis. Sie erscheint uns als verblüffend anders, ungewohnt und in vielerlei Hinsicht vielleicht auch als unbegreiflich und fremd. Oft rührt dies daher, dass viele kulturelle Gepflogenheiten nur direkt durch die gemachte Erfahrung weitergegeben werden und somit erlebt werden müssen, um sie zu verstehen. So verhält es sich wohl auch mit dem japanischen Konzept des Wabi-sabi. Oft wird dieses zu einem rein ästhetischen Konzept banalisiert, es geht dabei, wie im Folgenden Essay erläutert, jedoch um weit mehr als nur um ein auf Äusserlichkeiten reduziertes Ideal. Wabi-sabi ist vielmehr ein «[…] umfassendes ästhetisches System. […] Es bietet eine vollständige Annäherung an das elementare Wesen des Daseins (Metaphysik), geheiligtes Wissen (Spiritualität), emotionales Wohlbefinden (Geisteshaltung), richtiges Benehmen (Moral) und einen Blick und Gefühl für Dinge (Körperlichkeit)» (Koren 2017, S. 41).

Im architektonischen Bezug sind insbesondere die mit der Geisteshaltung verknüpften geistigen Werte, der «Blick und das Gefühl für Dinge» und ihre Stofflichkeit, sowie die moralischen Vorstellungen von grösserem Interesse, da sie sich in direkter Weise auf die architektonische Ausgestaltung eines Gebäudes auswirken und dadurch direkt erfahrbar und vor dem sogenannten «Laien», bewusst oder unbewusst, in Erscheinung treten.

In vielerlei Hinsicht mögen diese im Folgenden erörterten Prinzipien entgegengesetzt zu unserer heutigen modernen Architektur in Erscheinung treten. Ich wage zu behaupten, dass nur wenige mit doch etwas eigenen Ästhetik der Moderne und den damit verbundenen Ideen viel abgewinnen können. Und doch sind die Bauten der westlichen Welt in ihrer Art sehr stark von dieser Zeit der architektonischen Neuausrichtung geprägt, zum einen in materieller Hinsicht, aber auch in ihrer organisatorischen Ausrichtung und der philosophischen Prägung. Im Folgenden sollen die beiden Philosophien kurz erörtert werden und mögliche Auswirkungen auf unsere westliche Architektur, die durch eine Akzeptanz des uns fremden, östlichen Konzepts auftreten könnten, erläutert werden.

Eine versuchte Definition der Philosophie des Wabi-sabi

Leonard Koren versucht das Wesen von Wabi-sabi wie folgt zu umschreiben: «Wabi-sabi bezeichnet die Schönheit unvollkommener, vergänglicher und unvollständiger Dinge. Es bezeichnet die Schönheit anspruchsloser und schlichter Dinge. Es bezeichnet die Schönheit unkonventioneller Dinge» (Koren 2017, S. 7).

Seinen Ursprung findet diese Philosophie im Zen-Buddhismus. Wobei es als «Zen der Dinge» bezeichnet wird und die Lehrsätze des Zens veranschaulicht. Insofern ist es also im weiteren Sinn Teil einer Lebensphilosophie, wie sie der Zen-Buddhismus lehrt und verfolgt. Einige dieser Prinzipien sind zum Beispiel: man verfolgt den Weg, nicht das Ziel und bewegt sich achtsam und mit wachem Bewusstsein durch das Leben. Dadurch weiss man sich an den kleinen Dingen des Lebens zu erfreuen. Es ist also im eigentlichen Sinn eine Abkehr vom eigenen Streben nach einem perfekten Etwas, einem perfekten Ideal und dem Verfolgen eines wagen, weit in der Zukunft liegenden Ziels, das nach einem möglichen Erreichen über sämtliche Zeit Bestand zu haben hat, dessen Erreichen logischerweise jedoch nie mit Sicherheit vorhergesagt werden kann.

Um den Begriff jedoch etwas besser fassbar zu machen, sei hier das Wabi-sabi-Universum, wie es Koren beschreibt, erklärt und dargelegt. Dies anhand der Geisteshaltung (geistigen Werte), der stofflichen Qualitäten und den moralischen Vorstellungen.

Die Geisteshaltung und geistigen Werte

Diese wurden durch die Japaner aus der Beobachtung der Natur und der damit verbundenen Erfahrung «der Wahrheit» gewonnen. An erster Stelle steht die Vergänglichkeit aller Dinge, alles ist vergänglich, mag es auch als noch so unendlich erscheinen. Materielle Dinge wie Planeten und Sterne, aber auch immaterielle Dinge wie zum Beispiel gesellschaftliche Wertvorstellungen und Gepflogenheiten vergehen und können in Vergessenheit geraten. (Vgl. Koren 2017, S. 45 ff.)

Weiter kann nichts als vollkommen angesehen werden, Perfektion existiert nicht und ist niemals zu erreichen. Mit dem Lauf der Zeit werden die Dinge immer unvollkommener, da sie sich wieder zurück in Richtung ihrer Ursprungsform wandeln. Holz illustriert diesen Vorgang sehr schön, da dieser Rohstoff aus der Erde erwachsen, mit dem natürlichen Zerfall in der Natur wieder zu ihr zurückfindet. (Vgl. Koren 2017, S. 45 ff.)

Und schliesslich muss erkannt werden, dass nichts als vollständig oder beendet angesehen werden kann. Das Universum und alles sich darin Befindliche befindet sich im steten Wandel des Werdens und Vergehens, der scheinbar niemals endet.

«Grösse» findet man im Unscheinbaren. Details werden oft übersehen, obwohl genau sie es sind, die etwas Herausragendes treffend beschreiben und es durch ihr Vorhandensein auszeichnen. In ihnen zeigt sie die berühmte «Liebe zum Detail» und sie drückt so zum Beispiel einen Grossteil des Stellenwerts eines Gebäudes aus. Wabi-sabi zelebriert nicht das Monumentale, Pompöse oder Glamouröse, wodurch sich die Mentalität dieser Philosophie gänzlich von der westlichen Geisteshaltung unterscheidet. Hier wird der Weg zelebriert nicht das Ziel, es wird die Zeit zelebriert, die mit einer Tätigkeit oder einem Vorgang verbracht wird. Das Schöne im Kleinen und Unscheinbaren zu sehen erfordert Zeit, Interesse und Hingabe und verträgt kein schnelles Inhalieren im Vorübergehen. (Vgl. Koren 2017, S. 48)

Eng damit verbunden ist auch die Haltung sich einer strikten Trennung von schön und hässlich zu entziehen. Schönheit wird als Zustand zu einer bestimmten Zeit, in einem bestimmten Kontext empfunden und ist wie alles Andere ebenfalls vergänglich. Insofern kann aus etwas «Unschönem» zur richtigen Zeit und im richtigen Zusammenhang etwas Schönes entstehen. Insofern sind auch alternde oder sich verändernde Materialen, wie Ton, der Risse erhält, oder Metall, das rostet, nicht als negativ anzusehen, sondern als Teil der Veränderung, die allgegenwärtig ist. (Vgl. Koren 2017, S. 48)

All dies verkörpert die physischen Kräfte und tiefgehenden Strukturen, die unserem Alltag zugrunde liegen.

Leonard Koren
Das Unvollkommene Vollkommene ist Wabi-sabi

Der Blick und das Gefühl für Dinge und ihre stofflichen Qualitäten

Den Gegenständen des Wabi-sabi sind die äusseren Einflüsse ihrer Umgebung direkt anzumerken, egal ob diese natürlicher oder menschlicher Art sind. Sie sind quasi ein Zeitzeuge des Vorgangs, den sie bisher durchlebt haben. So kann also eine Schale, die zersprungen ist und wieder geklebt wurde, genauso Wabi-sabi sein, wie eine schön geformte Vase aus Ton. (Vgl. Koren 2017, S. 61 ff.)

Vielleicht strahlen diese Gegenstände gerade wegen ihrem «unperfekten» Aussehen eine Art Vertrautheit aus, sie laden ein eine Beziehung mit ihnen einzugehen und sie zu benutzen. Ihr vertrauter Charakter hat wohl nicht zuletzt auch mit der «rohen» stofflichen Anmutung dieser Dinge zu tun. Am Beispiel eines Hauses kann wohl gesagt werden, dass ein Haus aus von Hand bearbeitetem Holz mit all seinen Kerben und unperfekten Stellen ein grösseres Gefühl von Vertrautheit in uns auslöst als zum Beispiel ein Glashaus aus perfektem und «reinem» Material. Weiter sind Wabi-sabi Objekte stets einfach und naturnah gehalten. Sprich die verwendeten Materialien werden nicht gänzlich entfremdet und sind immer noch in ihrer simplen natürlichen Beschaffenheit zu erkennen. Diese stoffliche Qualität verlangt natürlich nach einer Reduzierung der Materialien, den im Wesentlichen benötigten, was wiederum die moralischen Vorstellungen zu Wabi-sabi unterstützt und bekräftigt. (Vgl. Koren 2017, S. 61 ff.)

Stofflichkeit des Wabi-sabi

Die moralischen Vorstellungen

Nicht zuletzt, weil Wabi-sabi eng mit dem Zen-Buddhismus verknüpft ist, verlangt Wabi-sabi vom Menschen sich von jeglicher Gier nach Statussymbolik, privatem Reichtum und insbesondere auch dem Streben nach Macht zu befreien. Es geht um «die feine Balance zwischen dem Vergnügen, das Dinge einem bereiten können und der Freude, die aus der Unabhängigkeit von solchen Dingen erwächst» (Koren 2017, S. 57).

Man geht sogar so weit, dass auch eine Hierarchie unter den Dingen und den Materialien dieser Dinge verneint wird. So ist Gold nicht mehr wert als Papier, Bambus nicht mehr wert als Lehm. Durch diese Gleichstellung der Dinge erhält jedes Material die Möglichkeit seiner selbst gerecht zu werden, wenn es im richtigen Kontext am richtigen Ort eingesetzt wird, wie es bereits die Geisteshaltung und geistigen Werte des Wabi-sabi verheissen.

Die Philosophie der klassischen Moderne

Die allmähliche Abkehr vom historistischen Grundgedanken der wilden Verwendung und Kombinatorik älterer Stilrichtungen in einem neu zu errichtenden Gebäude des Historismus gipfelte in einem neuen  architekturphilosophischen Verständnis der damaligen Vertreter des «Neuen Bauens». Das neue Gedankengut wurde vehement verbreitet und propagiert durch die berühmtesten Avantgardisten dieser (Gegen)Bewegung, die da sind: Ludwig Mies van der Rohe (1886 – 1969), Alvar Aalto (1898 – 1976), Richard Neutra (1892 – 1970) und natürlich Le Corbusier (1887 – 1965) .

Die in ihrer Art nie dagewesene und durch rationale und funktionale Grundsätze geprägte Architektur der damaligen Zeit zeichnet sich durch folgende Merkmale aus:

Asymmetrische Kompositionen, welche zu einer bewusst oder unbewusst lebendigeren und spannungsvolleren Gesamtkomposition führen, als es beispielsweise bei strikt symmetrischen Anordnungen der Fall ist.

Einfache (oft kubische) Hauptformen, die dem von Mies van der Rohe gefassten Prinzip des «Less is more» folgen und die neue Einfachheit des architektonischen Ausdrucks unterstreichen.

Ausladende Fensterfassaden, welche durch die fünf Grundsätze von Le Corbusier und die darin festgehaltene Erkenntnis der statischen Trennung von Fassade und Gebäudetragkonstruktion mittels Pilotis ermöglicht werden.

Fehlende Ornamentik und Verzierung, was bereits Adolf Loos im Jahre 1908 durch seine These des überflüssigen Ornaments in der Architektur propagiert. Seiner Meinung nach ist das Ornament zu ersetzen mit wertigen Materialien, die jegliche Verzierung überflüssig machen. Während der «Klassischen Moderne» wurden jedoch oft nur die neuartigen Materialien Stahl, Glas und stahlbewerter Beton eingesetzt.

Die dadurch geschaffene Architektur wollte nicht nur, wie oft behauptet, sich selbst gerecht werden. Sie wollte durchaus ihre Sozialverantwortung wahrnehmen, indem der neu geschaffene Wohnraum Sonne, Licht und Luft ins Leben ihrer Bewohner lässt, wie es die damals vorherrschenden Verhältnisse oft nicht zuliessen. Die damaligen Wohnverhältnisse in Mietskasernen, die dreckigen und spärlich belichteten Hinterhöfe und die Kleinteiligkeit der Räume, in denen für heutige Verhältnisse undenkbar viele Menschen zusammenwohnten, führten zu viel psychischem und physischem Leid in der Bevölkerung. Diesen Missstand wollte man beheben.

Die Ausformulierung der Bauten jedoch führte leider – insbesondere durch ihre oft karge Stofflichkeit und den fehlenden Bezug zur Natur – zu einem für Menschen nicht «lebensfreundlichen» Umfeld. Es wurde gegen die Natur entworfen, da man fest an die Kontrollierbarkeit der Natur glaubte und dem starken Fortschrittsglauben zusätzlichen Ausdruck verleihen wollte. So erhielt die Technologie oft einen überhöhten Stellenwert im Entwurfsprozess und auf den bereits bestehenden natürlichen oder baulichen Kontext wurde wenig bis gar keine Rücksicht genommen. Auch die angestrebte Standardisierung und Massenproduktion half in dieser Hinsicht natürlich nicht weiter und wirkte eher einem phänomenologischen Entwurfsansatz entgegen. Nicht zuletzt der Ausdruck der «Wohnmaschine» beschreibt den damaligen baulichen Zeitgeist sehr treffend.

Die moderne Stadt

Mögliche Auswirkungen des Wabi-sabi auf unsere westliche Architektur

Beschränke alles auf das Wesentliche, aber entferne nicht die Poesie. Halte die Dinge sauber und unbelastet, aber lasse sie nicht steril werden.

Richard A. Powell

Anhand dieses Zitats von Richard A. Powell lässt sich gut der Unterschied zwischen Moderne und Wabi-sabi aufzeigen. Während die Moderne die Beschränkung auf das Wesentliche mit dem fernöstlichen Konzept teilt und auch die Dinge sauber und unbelastet zu halten vermag, versagt sie im wichtigsten Teil des Satzes: «Dem nicht steril werden lassen». In direkter Folge würde eine Besinnung unseres architektonischen Schaffens auf Wabi-sabi wohl zu einer persönlicheren und vertrauteren Art der Architektur führen. In städtebaulicher Hinsicht würden wohl weniger die Materialien Glas und Metall zum Einsatz kommen und wohl eher sinnlichere Materialien eingesetzt werden, wie Stein (Sandstein, Travertin, Tuffstein etc.), welche auch eher dem früheren architektonischen Schaffen und den dadurch «natürlich» gewachsenen Städten entsprechen und diese in einer uns bekannten und vertrauten Tradition weiterführen würden. Die oftmals verschmähten, unpersönlichen Grossstadtteile würden sich eher den heutigen Altstädten annähern und eine derart grosse Kluft zwischen neu und alt, wie sie heute oft vorzufinden ist, würde erst gar nicht entstehen. Dies auch vor dem Hintergrund, dass nichts als «für die Ewigkeit» angesehen wird und auch Patina akzeptiert würde. Insofern könnte dies durchaus zu einem lebensfreundlicheren, städtischen Umfeld beitragen und städtebauliche Massnahmen in Bezug auf die «lebenswerte Stadt» würden sich nicht mehr nur auf eine gute Aussen- und Freiraumgestaltung beschränken müssen, etwas überspitzt formuliert.

Auch in ökologischer und ökonomischer Hinsicht hätte dies weitreichende Folgen. Da nichts für die Ewigkeit gebaut wird, würden wir wohl eher mit einer Lebensspanne von vierzig, anstatt achtzig Jahren bei einem Gebäude rechnen, wie dies im traditionellen japanischen Hausbau auch der Fall ist. Dies positiv oder negativ zu werten ist schwierig. Zum einen ist eine lange Lebensdauer von Vorteil, wenn das Gebäude den Ansprüchen einer langzeitlichen Nutzung nachkommen kann, zum anderen wird jedoch genau darum oft ökologisch unvorteilhaft gebaut. Es werden vor allem Materialien eingesetzt, die lang haltbar sind, wie zum Beispiel Beton, was in ökologischer Hinsicht äusserst fraglich ist. Insbesondere dann, wenn ein Gebäude nicht im Stand ist, den gesellschaftlichen Wandel mit zu machen und neuen Anforderungen der Nutzung gerecht zu werden. Dann wird schnell etwas Neues gebaut und der langen Haltbarkeit, der in ökologischer Hinsicht teuren Materialien, wird nicht Rechnung getragen. Würden «kurzlebigere» Materialien richtig verwendet, wie zum Beispiel Holz und Lehm, würden auch diese Zeitspannen von achtzig und mehr Jahren oder länger überstehen (man nehme die alten japanischen Tempel als Vorbild) und aus ökologischer Sicht könnten diese ohne weiteres rück gebaut und sogar neu verbaut werden. Auch eine Änderung der Nutzung könnte so an einem Ort vollzogen werden, dies sogar mit einem Neubau.

Insgesamt würde wohl ein bewussterer Umgang mit der Architektur in all ihren Fassetten gepflegt werden, was der hiesigen, heute zelebrierten Baukultur ohne Zweifel gut tun würde.


Quellen: Koren 2017: Leonard Koren: Wabi-sabi für Künstler, Architekten und Designer. Hrsg. von Matthias Dietz, 9. Aufl.: Tübingen 2017

Die folgenden zwei Bücher von Leonard Koren beschäftigen sich mit Wabi-sabi im Bezug auf Architektur und Design:

 Text: Christoph Ritler; Fotografie: Bruno Cervera, Feruz Matkarimov, Jeffrey Czum, Madison Inouye, Kerimli Temkin

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