Die kleine Geschichte der Achtsamkeit

Achtsamkeit durch Meditation

Eine neue und etwas andere, sprich «geläuterte», Sichtweise der Dinge.

Es gibt ständig Ereignisse in unserem Leben, die uns prägen und denen wir in Achtsamkeit begegnen sollten. Durch Sie werden wir unweigerlich zu dem was wir sind oder anders gesagt zu dem was uns ausmacht. Die ersten Geschehnisse kriegen wir als Säuglinge oder Kleinkinder vielleicht nicht einmal ganz so bewusst mit und doch denke ich, beginnt sich bereits von diesem Moment an unser Charakter und unser Wesen zu formen. Ein bis dahin weisses und unbeschriebenes Blatt wird zum ersten Mal beschrieben. Von da an entwickeln wir uns unaufhörlich, meistens in eine positive Richtung. Wir entfalten unsere Kreativität, eignen uns Wissen an um geistig voran zu kommen und erlernen handwerkliche Fertigkeiten, die uns durch den Alltag bringen.

Manchmal sucht uns jedoch ein Ereignis heim, das uns psychische Schmerzen bereitet. In solchen Zeiten neigen wir dazu, aus dieser positiven Entwicklung auszureissen. In Momenten der Wut, Angst und des Verletzt-seins sind wir im ewigen Gedankenkarussell gefangen und fügen uns selbst oder schlimmer, anderen Lebewesen Schaden zu. Je nach Schwere der Verletzung heilen wir schneller oder brauchen etwas länger. Werden wir jedoch besonders schwer und vielleicht wiederholt verletzt, besteht die Gefahr, dass wir eine Negativhaltung entwickeln und diese als Dauerzustand «akzeptieren». Stellt sich in dieser Hinsicht eine Gewöhnung ein, wird eine Überwindung dieser Sichtweise mit fortgeschrittener Zeit immer schwerer. Dann finden wir uns in einem Dauernegativen oder immer wiederkehrenden maligen Zustand wieder.

Ein Psychiater sagte mir einst zu diesem Thema: «Menschen ändern sich erst, wenn ihr Leidensdruck zu gross wird …». Eines Tages war mein Leidensdruck wohl zu gross, sonst wäre ich heute nicht in der Lage dieses Essai zu schreiben und es auch so zu meinen. Als ich vor nicht allzu langer Zeit nicht mehr weiter wusste und das Unwohlsein kaum mehr auszuhalten war, flüchtete ich mich lange Zeit in diverse Aktivitäten, war quasi rastlos unterwegs und wurde von einer inneren Unruhe getrieben, die sich schrecklich anfühlte und den Geist müde machte. So konnte ich Zeitweise meine innere Verzweiflung zwar wegdrücken, aber stehts holten mich diese Gedanken wieder ein. Eines Abends stolperte ich über den Film «Yalom’s Cure» von und mit Irvin D. Yalom. Ich lauschte seinen Worten und wurde nachdenklich. Gegenwärtig weiss ich nicht mehr ob es an der beinahe meditativen Ruhe des Films oder an den nachdenklichen und verständnisvollen Worten von Irvin lag. Dieser Film löste etwas in mir aus, was genau ist schwierig zu sagen. Ich würde meinen, ich begann mich wohl für eine neue und etwas andere Sichtweise auf das Leben zu interessieren.

So fand ich den Zugang zu Themen der Lebensphilosophie. Ich begann Bücher zu lesen und darüber nachzudenken. Die Werke «Das Wunder der Achtsamkeit» und «Das Wunder des bewussten Atmens» von Thich Nhat Hanh, oder «Zen-Geist Anfänger-Geist» von Shunryu Suzuki und viele andere, begannen mir langsam aber sicher die Augen zu öffnen. Ich lauschte den Worten von Lebensphilosophen wie Jaggi Vasudev (bekannter unter dem Namen «Sadhguru»), dessen Weisheiten gleichsam einfach und tiefgründig sind. Anfänglich tat ich mich schwer damit zu verstehen, was sie im Kern ihrer Lehre zu vermitteln versuchen, doch mit der Zeit und der Selbstreflexion begann ich allmählich zu verstehen.

In der heutigen, oft hektischen Zeit viel verwendete Modebegriffen wie etwa «Achtsames Leben» oder «Slow Living» teilen uns in ihrem Kern genau die Lebensweisheiten mit, welche durch Psychologen, Yogi, Mystiker und Lehrmeister wie Thich Nhat Hanh, Sadhguru und Yalom besprochen werden. Verstehen wir diesen Kern des Seins, ermöglicht diese neue, geläuterte Sichtweise auf die Dinge uns einen viel freieren, von Ängsten und Zwängen befreiten Umgang mit dem Leben und seinen Eigenheiten.

Sprechen wir nun also über einen grundlegenden Aspekt unseres Seins. Haben wir diesen Punkt erst einmal verstanden und uns Raum für einen möglichen Umgang damit geschaffen, besteht die Möglichkeit, sich auf weitere Betrachtungsweisen unseres Seins einzulassen.

Wir müssen verstehen, dass unser Leiden selbstgemacht ist. Das mag auf den ersten Blick nicht so aussehen, doch wenn wir die uns angeborene Art mit Problemen umzugehen genauer hinterfragen, wird es uns klar. Werden wir beispielsweise mit einem schmerzhaften Verlust konfrontiert, der uns im Innern tief trifft, sind wir im ersten Moment tief traurig. Diese Trauer ist eine gute Trauer und es gilt sie mit voller Intensität zu spüren und unter Tränen wahrzunehmen. Sie darf nicht weggedrückt oder vernachlässigt werden, im Gegenteil, sie muss umarmt werden, denn Sie ist heilsam. Diese Trauer ist kein Leiden, sie ist natürlich und kann sogar als schönes Gefühl wahrgenommen werden, denn sie ist befreiend und hilft uns mit dem Geschehenen umzugehen. Sie ist ein intuitiv wahrgenommenes Urgefühl unseres Körpers und nicht «Kopfgesteuert». Doch dann gibt es da diesen Zeitpunkt, an dem unser Verstand damit beginnt, die Kontrolle zu übernehmen und uns aus diesem spüren des Urgefühls heraushebt. In diesem Moment beginnt unser selbstgemachtes Leiden.

Unser Verstand hat die Angewohnheit sich gerne Geschichten auszudenken. Wir beginnen uns also zu fragen: «Was könnte sein, wenn …?» oder «Wie wäre es gekommen, hätte ich …?» oder wir sagen uns im konkreten Fall des Verlustes vielleicht: «Hätten wir doch noch dies und jenes zusammen erlebt.». Und so weiter und so fort, die unendliche Geschichte wird nicht zu Ende erzählt. Solche Gedankenspiele lösen in uns negative Gefühle wie Verzweiflung, Angst, Neid und Hass aus und das ist schlussendlich unser selbstgemachtes Leid. Wenn wir zu uns selber ehrlich sind spiegelt keiner dieser Erzählstränge die Wirklichkeit wider, da wir zum einen nie wissen was uns die Zukunft bringt und zum anderen auch nie mit Sicherheit sagen können, wie es denn jetzt wäre wenn.

Diese erfundenen und negativen Geschichten, müssen wir also als solche erkennen und sie vor unserem Verstand verneinen. Wir müssen es ihm untersagen diese weiter kreieren zu dürfen. Wenn wir unser Denkvermögen lenken und nicht unser Denkvermögen uns lenkt, können wir gutes für uns und Andere erreichen und wir hören damit auf uns selbst und vielleicht sogar unseren Mitlebewesen Leid zuzufügen.

Um dies zu erreichen, müssen wir uns eines Hilfsmittels bedienen: unserem Atem. Sobald wir bemerken, dass unser Verstand seine Spiele mit uns treibt, beginnen wir uns bewusst auf unseren Atem zu konzentrieren. Wir versuchen zu spüren, wie er in uns hineinfliesst und wie er uns wieder verlässt. Wir versuchen zu spüren, ob wir oberflächlich in der Brust atmen oder tief in den Bauch hinein. Dabei lenken wir den Atem nicht, wir nehmen nur bewusst war, was er tut. Plötzlich werden wir merken, dass unser Verstand sich doch wieder in den Vordergrund drängt, auch das nehmen wir war, lassen ihn wieder los und kehren zurück zur bewussten Wahrnehmung des Atems. Das ist der Weg hin zu einem Umgang mit unserem eigenen Verstand und der Pfad weg, von unserem selbstgemachten Leid.

Von diesem Atemzug an sind wir achtsam, mit vollem Bewusstsein in der Realität angekommen und das in lebenslanger Praxis.

Weiterführendes zu diesem Thema finden Sie hier:

 Text: Christoph Ritler; Fotografie: Artem Beliaikin 

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